Systemversagen auf Rezept

Wenn der Sozialstaat krank macht.

Kommentar von Jens Baumanns

Prolog: Kein Boden unter deinen Füßen

Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf, dein Körper schmerzt, aber du funktionierst noch. Du schleppst dich durch den Tag, wie so oft in den letzten Jahren. Doch diesmal ist es anders: Erst das Knie. Dann, ein paar Monate später, die Diagnose: Brustkrebs.

Du schluckst, atmest, nickst, hörst die Worte des Arztes – aber eigentlich hörst du nur das Rauschen im Kopf. Es folgen Operationen.

Erst wird die rechte Brust entfernt, mitsamt Muskelgewebe und Lymphknoten. Dann die linke. Später kommen die Implantate. Dazwischen: Antihormontherapie, Infekte, Schmerzen, Gedächtnislücken und immer wieder das Gefühl, dass du nicht nur deinen Körper verlierst, sondern auch dich selbst.

In deinem Leben hast du immer funktioniert, über 40 Jahre lang. Du hast Nächte durchgearbeitet, Schichten getauscht, bist eingesprungen, hast getragen, gepflegt, gestützt – andere, nie dich. Du warst Krankenschwester. Du hast jahrelang das System getragen. Jetzt trägst du – die Folgen. Als du fällst, merkst du: Es gibt keinen Boden. Kein Netz, kein Halt. Nur Formulare.

Du verlierst die Orientierung – und niemand greift ein

Du versuchst, dein Leben zu organisieren. Erinnerst dich kaum noch, wohin du gehen wolltest, als du den Einkaufszettel in der Hand hast. Du willst nur einkaufen, eigentlich eine Nebensache – wäre da nicht dieses Blatt Papier in deiner Hand, das du mehrfach anstarrst, ohne zu begreifen, warum du es überhaupt geschrieben hast. Einkaufszettel, ja, aber was brauchst du? Wofür? Du stehst im Supermarkt, starrst auf das Kühlregal. Milch. Hattest du welche gekauft? War das gestern, oder doch letzte Woche?

Einst warst du das Gedächtnis der Station. Jetzt versuchst Du dich zu erinnern, versuchst zu funktionieren, willst nicht auffallen. Du greifst zu irgendetwas, das du vielleicht brauchen könntest, dann: Kasse. Die Karte gleitet auf das Terminal, wie automatisch. Dann fragt dich die Kassiererin nach deiner PIN. Ein Satz, den du tausendmal gehört hast. Du nickst, willst tippen. Doch es ist leer in deinem Kopf.

Du siehst das Feld, die vier Stellen – vertraut, banal, jahrzehntelang abrufbar. Heute, plötzlich: nichts. Kein Zugriff. Nur Zahlen, die du nie gesehen zu haben scheinst. Du lachst gequält. Sagst etwas wie „Ach, manchmal hat man einfach ein Brett vorm Kopf, nicht wahr?“ Die Schlange hinter dir schaut schon. Eine junge Frau zückt ihr Handy. Ein älterer Herr schnaubt hörbar.

Du aber stehst da, nicht weil du zu langsam bist. Sondern weil dein System – dein Kopf, deine Konzentration, deine Erinnerungen – durch Medikamente vernebelt sind, die du nehmen musst, um zu überleben. Antihormone, sagen sie. Eine Therapie, nennen sie es. Doch was sie in dir anrichtet, sieht niemand. Niemand sieht, wie du innerlich stolperst, während du äußerlich versuchst, Haltung zu wahren. Niemand sieht dich.

Du kommst nach Hause. Der Körper will Ruhe, im Kopf bleibt Lärm. Du suchst dich selbst, aber findest nur Spuren – irgendwo zwischen Schmerzmitteln, Erinnerungsfetzen und einem Kalender, den du nicht mehr begreifst. Bist du noch hier? Oder schon vorgegangen, aus dir heraus? Später sitzt du am Küchentisch. Der Stuhl trägt dich, du dich selbst kaum. Du öffnest den Laptop. Man hat dir gesagt, du sollst den Antrag auf Erwerbsminderungsrente online stellen – das sei „einfach, schnell, digital“. Also klickst du dich durch. Feld für Feld: Diagnose, Zeiträume, Hausarzt, Klinik, Reha, Medikamente. Noch ein Haken, noch ein Pflichtfeld.

Was in der normalen Bürokratie ein Fortschritt wäre, ist hier eine Kältezone. Kein Mensch, keine Rückfrage, kein Fehler erlaubt. Du klickst auf „Senden“ – und das System klappt sich zusammen wie eine Falle. Kein Beleg. Kein Zugang mehr, kein Zurück. Im Casino, beim Roulette, würde man sagen: „Rien ne va plus – keine Einsätze mehr“, da die Kugel nun rollt – und du hoffst, dass sich dein Einsatz lohnt.

Wochen später kommt der Bescheid: Du seist arbeitsfähig. Sechs Stunden täglich, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Es ist ein Hohn – gegossen in Verwaltungsdeutsch, verfasst von jemandem, der dich nie gesehen hat. Die Diagnose: Aktenlage. Die Entscheidung: Textbaustein.

Du suchst Hilfe – und wirst verdächtigt

Du legst Widerspruch ein, wartest. Wochen, dann Monate. Nichts. Du schleppst dich zur Arbeitsagentur – nicht weil du kannst, sondern weil du musst. Jeder Schritt dorthin kostet dich mehr Kraft, als du gerade übrig hast.

Am Schreibtisch sitzt ein junger Sachbearbeiter, frisch gebügelt, dienstbereit. Sein Blick sagt nicht: „Wie kann ich helfen?“ Sondern: „Was wollen Sie hier?“ Er fragt, ob du nicht doch halbtags arbeiten kannst. Ob du dir sicher bist, ob du dich nicht täuschst – als hättest du deine Krankheit erfunden, um dich vor der Arbeitswelt zu drücken.

Dein Lebenslauf interessiert ihn nicht. Vierzig Jahre im Dienst? Bedeutet ihm nichts. Er kennt keine Biografien – nur Kategorien und in einer davon landest du: „ungelernt“. Ausgerechnet du, die Generationen von Pflegekräften ausgebildet hat, wirst per Mausklick zur Hilfskraft degradiert – es braucht nicht mehr als ein Kreuz an der falschen Stelle. Erst als du schreibst, erst als du protestierst, erst als du dein Examen in Kopie beilegst, bewegt sich etwas. Man nennt es einen „Formularfehler“. Ein Häkchen zu wenig, ein Klick zu viel. Keine Entschuldigung, keine Verantwortung. Nur die nächste Systemkorrektur – als wärst du ein Zahlendreher, kein Mensch.

Die Reha wird zur weiteren Zumutung

Du fährst zur Reha: nicht gesund, aber hoffnungsvoll. Endlich, vielleicht ein bisschen Entlastung, vielleicht ein Ort, an dem nicht alles wehtut – zumindest für ein paar Tage. Doch noch bevor die erste Therapie beginnt, fehlt das, was du zum Leben brauchst: das Geld. Kein Zahlungseingang, kein Übergangsgeld. Auf Nachfrage heißt es: Dein Antrag sei nicht eingegangen. Trotz Nachweis, trotz Frist, trotz der Kür der deutschen Bürokratie: eines Einschreibens mit Rückschein.

Folglich rechnest du. Jeden Tag. Ob du dir das Mittagsbuffet leisten kannst – oder besser nicht. Ob du Shampoo kaufst – oder wartest. Ob du die Miete schaffst – oder um Aufschub bittest. Die Reha, gedacht als Schritt zurück ins Leben, wird zum fensterlosen Raum der Existenzangst. Im Bademantel sitzt du zwischen Blutdruckmessung und Gruppentherapie – mit dem Taschenrechner in der Hand.

Du begreifst, dass du störst

Nicht deine Krankheit ist das Problem – sondern du. Du passt nicht ins Raster, du störst die Statistik, sprengst den Ablauf, bringst das System aus der Ruhe. Zu aufwendig, zu komplex, zu unberechenbar. Also wirst du herabgestuft, geprüft, angezweifelt. Nicht behandelt – sondern bewertet.

Du wirst nicht getragen: du wirst kontrolliert, gemessen, sortiert.
Du warst nie laut, du hast nie gefordert: du hast mitgeschleppt, mitgestützt, mitgehalten.
Doch jetzt? Jetzt hält dich keiner. Jetzt trägst du – dich selbst. Allein auf verlorenem Posten.

Du merkst, du bist nicht allein: das macht es aber noch schlimmer

Du hörst von anderen. Es sind viele. Krebskranke. Burnout-Betroffene. Menschen mit chronischen Schmerzen, mit tiefer Erschöpfung. Geschichten, die deiner gleichen – bis ins Detail. Du bist kein Einzelfall. Du bist kein bedauerliches Versehen. Du bist ein wiederkehrender Fehler im System.

Ein Staat, der sich sozial nennt, versagt ausgerechnet dort, wo er gebraucht wird. Er schützt nicht die, die ihn getragen haben. Er stützt nicht, wer ihn gestärkt hat. Er investiert nicht in Menschen – sondern in Abläufe. Nicht in Mitgefühl – sondern in Bürokratie. Nicht in Gerechtigkeit – sondern in die Selbstverwaltung seines eigenen Scheiterns.

Was jetzt kommen müsste – aber ausbleibt

Was dieses Land braucht, ist keine App, kein weiteres Onlineportal und ganz sicher keine zusätzliche Krankenkasse. Was es braucht, ist einen Staat, der Verantwortung nicht delegiert, sondern trägt. Einen Staat, der die Stillen nicht bestraft und die Lauten nicht belohnt. Einen, der keine 94 Krankenkassen braucht, um ein einziges Nein zu formulieren – aber Monate bis Jahre, um ein Ja zu rechtfertigen.

Es braucht Mut: für Struktur, für Klarheit, für Menschenwürde.
Eine Reform, die nicht am grünen Tisch entworfen wird, sondern an den Stellen beginnt, an denen das Leben längst Wunden schlägt. Radikal, weil es nicht anders geht. Transparent, weil Vertrauen verloren ist. Verlässlich, weil alles andere längst versagt hat.

Ein abschließender Gedanke

Wenn du das hier liest, dann denk nicht: „Wie schlimm für sie.“ Denk lieber: „Es kann jeden treffen. deine/n Partner/in, deine Mutter, deinen Vater – und ja, auch dich selbst.“ Der nächste Antrag, der verschwindet. Der nächste Bescheid, der dich zum Aktenzeichen statt zum Menschen macht. Die nächste Entscheidung, die dich unbemerkt aus dem System schiebt – es braucht keine Absicht. Nur einen Klick zu viel oder einen Haken zu wenig.

Das hier ist keine Fiktion. Es ist die Geschichte der Mutter meiner besten Freundin. Eine Frau, die ihr Leben lang für andere da war und plötzlich niemanden mehr hinter sich wusste, außer ihrer Familie. Sie ist real. Sie lebt, hat überlebt. Das System – aber nicht ohne Wunden. Das Vertrauen in das System, den Staat? Gezeichnet, beschädigt – und das völlig zurecht.

Sie wird nicht die Letzte sein, der das passiert. Sie war nur die Erste, die es nicht mehr still erträgt. Anhand ihres Schicksals begreife ich, woran dieser Staat wirklich zerbricht:
Nicht an seinen Gegnern, sondern an seiner Gleichgültigkeit gegenüber den Falschen.


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