80 Jahre Befreiung

Gedenken allein schützt nicht – Wer alles gleichsetzt, macht sich gemein.

Kommentar von Jens Baumanns

Heute, am 8. Mai, jährt sich die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus zum 80. Mal. Ein Datum, das mahnt – und gleichzeitig eine Frage aufwirft, die uns heute dringender beschäftigen sollte als je zuvor: Haben wir aus der Geschichte gelernt?

Der 8. Mai 1945 war kein Neuanfang, sondern die Rückkehr zu einem Menschsein, das zuvor millionenfach verraten worden war. Es war die Zerschlagung eines Systems, das auf Rassenwahn, Totalitarismus und Entmenschlichung basierte – und das auf perfide Weise vorgab, „Ordnung“ zu schaffen, wo in Wahrheit das Chaos der Barbarei herrschte. Die Lehren aus dieser Zeit sollten nie relativiert, nie verkürzt und nie funktionalisiert werden – weder von rechts, noch von links.

Doch was bedeuten diese Lehren heute – in einer Zeit, in der politische Ränder wieder Zulauf erhalten, in der Identitätspolitik statt Gemeinsinn dominiert und ein nüchterner, pragmatischer Diskurs beinahe verdächtig geworden ist?

Gerade der Aufstieg einer Partei wie der AfD – mit klar erkennbaren rechtsradikalen Tendenzen, nationalistischen Ressentiments und einer gefährlichen Nähe zur geschichtspolitischen Verharmlosung – zeigt, wie wachsam wir bleiben müssen. Diese Partei ist keine Antwort auf die Probleme unserer Zeit, sondern ein Symptom ihrer Entfremdung. Sie verkauft einfache Lösungen – die bei näherem Hinsehen keine sind. Doch ebenso verhängnisvoll ist es, wenn ausgerechnet jene, die sich als „progressiv“ verstehen, jeden Versuch konservativer Vernunft in die Nähe dieses Extremismus rücken. Wer die politische Mitte pauschal unter Rechtsextremismusverdacht stellt, treibt sie genau dorthin, wo sie nie hingehörte – an den Rand.

Die Wahrheit ist: Die demokratische Mitte ist kein Auslaufmodell. Sie ist der Raum, in dem Verantwortung, Maß und Realitätssinn noch zählen. Sie wird nicht dadurch gestärkt, dass man sie zwischen moralischer Selbstüberhöhung und populistischer Vereinfachung zerreibt. Erinnern darf nicht gleichbedeutend sein mit Erstarren – und schon gar nicht mit ideologischer Instrumentalisierung.

„Wehret den Anfängen“ bedeutet nicht, jeden politischen Dissens zur moralischen Apokalypse zu erklären. Es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen – nicht für Narrative, sondern für Realität. Für eine Politik, die schützt, was unsere Freiheit ausmacht: Differenzierung, Diskurs, Rechtsstaatlichkeit. Nicht Dogma, Lagerdenken oder Haltungstheater. Was wir heute brauchen, ist mehr als Abgrenzung – es ist die Rückkehr zu demokratischer Streitkultur.

Demokratie lebt nicht vom moralischen Monopol, sondern vom Meinungspluralismus. Sie ist kein Umerziehungsprojekt – sondern ein Versprechen auf Mitgestaltung. Andere Positionen auszuhalten, sie ernsthaft zu hören und nicht reflexhaft zu verurteilen, ist keine Schwäche, sondern demokratische Reife; und genau daran mangelt es uns immer häufiger – in Talkshows, in sozialen Medien, in Parlamenten. Pluralismus ist kein Luxus – er ist das Fundament, das von rechts wie von links gleichermaßen bedroht wird.

Die AfD versucht, die Mitte mit Parolen zu ködern, deren vermeintliche Lösungen auf Spaltung und Abschottung basieren. Sie macht Politik aus Ressentiment. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums wiederum, gibt es viele in der politischen Linken, die Realpolitik mit moralischer Überlegenheit verwechseln. Sie setzen auf symbolische Debatten, deren Inhalte meist nur auf Großstädter zutreffen – während viele Menschen sich fragen, wie sie in strukturschwachen Regionen überhaupt zur Arbeit kommen sollen, wenn der Bus nur gefühlt alle zwei Tage fährt, die Bahnlinie gekappt ist und die Brücke im Ort seit zwei Jahren marode ist.

Natürlich sind Klimaschutz, Gleichstellung und Mobilitätswende wichtige Themen – aber wer sie vor allem als Erziehungsauftrag versteht, erreicht die Menschen nicht, sondern entfremdet sie. Wer Zuwanderung kritisch hinterfragt, ist kein Reaktionär. Wer für Ordnung eintritt, ist kein Feind der Freiheit; und wer sich zur politisch-konservativen Mitte bekennt, ist kein Relikt vergangener Zeiten – sondern Garant für Stabilität. Die Mitte darf sich nicht polarisieren lassen – nicht durch rechte Populisten, nicht durch linke Ideologen.

Wenn der 8. Mai uns etwas lehren kann, dann dies: Eine wehrhafte Demokratie braucht mehr als Gedenktafeln. Sie braucht Klarheit, sie braucht Unterscheidungsvermögen. Vor allem aber braucht sie die Bereitschaft, einander wieder zuzuhören – vor allem dann, wenn das Gesagte der eigenen Meinung zuwiderläuft. Zuhören fördert das Verstehen und nur wer versteht, kann auch begreifen, was die Menschen umtreibt. Gerade wenn man nachvollziehen kann, warum jemand zu einer bestimmten Haltung kommt, entsteht überhaupt erst die Möglichkeit, zu überzeugen – oder zumindest deutlich zu machen, worin man sich unterscheidet.

Gegen Rechtsradikalismus, gegen linke Hypermoral und für eine demokratische Mitte, die nicht an den Rändern steht, sondern frei in der Mitte. Freiheit ist kein Zustand, sie ist ein Anspruch und sie bleibt nur lebendig, wenn wir sie nicht nur feiern – sondern gestalten, gleichwohl ihrer Unbequemlichkeit.