Der bestbezahlte Nebenjob Deutschlands

Bundestag GmbH & Co. KG

Kommentar von Jens Baumanns

Man stelle sich vor: Ein Angestellter taucht monatelang nicht zur Arbeit auf, meldet sich nicht ab, reagiert nicht auf Mails, ist telefonisch nicht erreichbar – und kassiert trotzdem weiter volles Gehalt. Er muss keine Leistungsnachweise erbringen, keine Projekte abliefern, keine Teammeetings besuchen. Kritik? Wird ignoriert. Konsequenzen? Keine. Im Gegenteil: Er legt sich sogar noch Nebentätigkeiten zu, verdient zusätzlich sechsstellig und erklärt auf Nachfrage, er sei eben „seinem Gewissen verpflichtet“.

In jedem Unternehmen wäre so jemand nach dem dritten Fehltag Geschichte. In der Verwaltung: suspendiert. In der Industrie: entlassen. Im Krankenhaus: eine Gefahr für Patienten. Im Bundestag? Ein ganz normaler Dienstag.

Dort gelten eigene Spielregeln. Oder besser gesagt: gar keine. Wer es einmal ins Parlament geschafft hat, genießt ein Schutzschild, das selbst Teflon neidisch machen würde. Unantastbar, unangreifbar, unkündbar. Die Immunität des Mandats ist in der Praxis längst zur Immunität gegenüber Verantwortung mutiert.

Mandatsfreiheit als Flucht vor Verantwortung

Dabei war der Grundgedanke einst ehrenwert: Die Väter des Grundgesetzes wollten verhindern, dass Abgeordnete unter Fraktions-, Parteidruck oder staatlicher Repression stehen. Artikel 38 GG spricht ihnen deshalb das „freie Mandat“ zu – verpflichtet allein dem Gewissen. Doch was als Schutz gegen autoritäre Übergriffe gedacht war, dient heute als Tarnkappe für politische Arbeitsverweigerung.

Der Volksvertreter von heute ist zwar gewählt, aber faktisch unantastbar. Ein politischer Freigeist mit der Lizenz zum Fernbleiben, zur Inaktivität, zur Nebentätigkeit – selbstverständlich alles steuerfinanziert. Kein Chef kann ihn ermahnen, kein Bürger ihn abberufen, keine Instanz ihn zur Ordnung rufen. Nicht einmal die kollektive Peinlichkeit, mit leerem Plenarsaal bei Debatten zur Haushaltskrise, reicht für Konsequenzen.

Ein Beruf ohne Nachweis, ohne Pflicht – aber mit Diäten

Wir sprechen von einem Berufsstand ohne Präsenzpflicht, ohne Urlaubsregeln, ohne formale Leistungsprüfung. Kein Protokoll vermerkt, ob ein Abgeordneter sich monatelang jeder inhaltlichen Auseinandersetzung verweigert. Kein Ausschuss rügt, wenn die einzige Aktivität darin besteht, Pressemitteilungen zu retweeten. Kein Wähler hat die rechtliche Möglichkeit, bei grober Untätigkeit einzugreifen – außer, vier Jahre lang still zu leiden.

Während Arbeitnehmer mit Stempeluhr, Leistungsdruck und Befristung leben müssen, reicht im Bundestag ein Mandat – und schon verwandelt sich Verantwortung in Dekoration. Das politische Mandat ist zur Vollkasko-Versicherung für Karrieristen geworden, denen der Kontakt zum Wahlkreis oft genauso fremd ist wie der Blick ins Grundgesetz.

Karriere ohne Können

Doch nicht nur das System ist dysfunktional – auch viele seiner Protagonisten sind es. Denn man wagt kaum zu fragen, mit welchen Qualifikationen manche unserer hochdotierten Volksvertreter eigentlich in ihr Mandat gestolpert sind. Die nüchterne Antwort: mit erstaunlich wenig. Kein Abschluss, keine Ausbildung, kein Beruf – dafür aber eine steile Karriere im Fahrstuhl der Parteijugend. Wer es früh genug schafft, im JU-Kreisverband Flyer zu verteilen, kann heute ohne einen einzigen Tag ehrlicher Erwerbsarbeit ins Parlament einziehen – und dort das Leben von Millionen mitgestalten, deren Realität er nie kennengelernt hat.

Das Ergebnis? Ein Rekordanteil von Akademikern im Bundestag – aber erschreckend viele davon ohne jeden Praxisbezug. Laut Auswertungen verfügen Dutzende Abgeordnete über keinen Berufsabschluss, einige nicht einmal über ein abgeschlossenes Studium. Sie gehören damit zu einer sehr exklusiven Gruppe: den bestbezahlten Ungelernten des Landes. Über 10.000 Euro monatlich Grundvergütung, steuerfreie Pauschalen, großzügige Altersversorgung – das alles ohne je wissen zu müssen, wie man eine Steuererklärung ausfüllt, eine Schicht in der Pflege überlebt oder mit drei Kindern durch den Wocheneinkauf kommt. Willkommen im Hochadel der Lebensferne.

Ein Elfenbeinturm mit Fahrdienst

Während der normale Bürger über Heizkosten, Rentenlücken und Kita-Plätze grübelt, fliegt in Berlin die Debatte an der Wirklichkeit vorbei wie der ICE am Regionalbahnhof. Dort, wo das Leben spielt, sind unsere Abgeordneten längst ausgestiegen. Existenzsorgen? Unbekannt. Angst vor Jobverlust? Unerklärlich. Monatsende? Reine Theorie. Die Republik diskutiert über bezahlbaren Wohnraum, Berlin hingegen über Dienstwagenordnungen. Und wer sich dann noch fragt, warum die Politikverdrossenheit wächst, hat den letzten Bürgerdialog wohl durch eine Lobbyistenrunde ersetzt.

Demokratie als Selbstbedienungsladen

Zu allem Überfluss regeln sich die politischen Kasten ihre Privilegien auch noch selbst. Die AfD zeigte es zuletzt exemplarisch: Ihre Fraktionsspitze gönnte sich ganz ungeniert eine Verdopplung der eigenen Zulagen – von bereits üppigen 6.000 auf satte 12.000 Euro monatlich obendrauf. Gesamteinkommen: 24.000 Euro. Pro Monat. Pro Person. Beschlossen im stillen Kämmerlein, kontrolliert von niemandem außer den eigenen Reihen. Man stelle sich vor, ein Betriebsrat würde sich selbst zum CEO befördern – und keiner hält ihn auf.

Doch während im Bundestag die eigenen Bezüge steigen, sind die großen Reformprojekte längst unter der Patina des politischen Stillstands begraben. Steuerlast, Energiekosten, Pflegekrise, Wohnraummangel – alles verschoben, vertagt, verpennt. Jahrzehntelang wurde das Notwendige hinausgezögert, bis das Unumgängliche nicht mehr zu bezahlen war. Jetzt ist es nicht nur zu spät. Es ist verantwortungslos spät.

Zeit für ein Ende der politischen Narrenfreiheit

Deshalb braucht es Reformen. Kein Reförmchen, kein Gutachten, kein „Wir-müssen-reden“-Stuhlkreis der Bundestagspräsidentin – sondern klare, durchsetzbare Regeln:

  • Ein gesetzlich verankertes Abwahlrecht für Abgeordnete, die nachweislich ihre Pflichten verletzen oder dauerhaft passiv bleiben. Was in anderen Demokratien längst Realität ist, wäre hier ein Befreiungsschlag.
  • Verpflichtende Transparenzpflichten zur Anwesenheit im Plenum, zur Beteiligung an Ausschüssen, zu Redebeiträgen, zur Abstimmungsteilnahme und zu Nebentätigkeiten. Öffentlich einsehbar, quartalsweise dokumentiert. Wer etwas taugt, hat nichts zu befürchten.
  • Gehaltskürzungen oder Disziplinarmaßnahmen bei grober Pflichtverletzung – etwa monatelanger Abwesenheit ohne triftigen Grund. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht verdienen. Das gilt in jeder Branche – außer in der Politik. Noch.
  • Verpflichtende Rechenschaftsformate im Wahlkreis, mindestens zweimal jährlich. Kein PR-Kaffeekränzchen, sondern verbindliche Bürgerdialoge, protokolliert und nachweisbar.

Natürlich wird sofort das freie Mandat bemüht. Doch wer das Mandat als Ausrede für Untätigkeit missbraucht, hat den Sinn der Freiheit nie verstanden. Es geht nicht darum, die Unabhängigkeit des Abgeordneten abzuschaffen. Es geht darum, sie mit Leben zu füllen – und mit Pflichten zu unterfüttern. Freiheit ohne Verantwortung ist keine Tugend, sondern eine politische Unverschämtheit.

Der Bundestag ist kein Ponyhof. Er ist das Zentrum unserer Demokratie und wer dort sitzt, muss nicht nur Reden halten, sondern auch liefern. Der Wähler ist nicht das Empfangskomitee einer politischen Elite, sondern der Arbeitgeber der Republik. Wer sich als Abgeordneter dafür zu schade ist, der sollte sich besser eine andere Bühne suchen – Reality-TV bietet bekanntlich ebenfalls Immunität gegen Sachlichkeit.

Fazit: Parlamentarismus braucht Prüfzeichen

Es ist höchste Zeit, den Goldrand um das freie Mandat zu schleifen. Nicht, um den Parlamentarismus zu schwächen – sondern um ihn zu retten. Denn wenn sich das Gefühl verfestigt, dass Abgeordnete zwar alles dürfen, aber nichts müssen, dann ist die eigentliche Gefahr nicht die Politikverdrossenheit – sondern die Demokratieverweigerung.


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Ein Graben geht durch’s Land

Der Platz der Republik verliert, was ihn ausmachte: die Republik

Kommentar von Jens Baumanns

Sie nennen es „Sicherheitsarchitektur“. Ich nenne es ein Symbol der Entfremdung.
Vor dem Reichstagsgebäude, auf jenem Platz der Republik, wo einst das Volk sinnbildlich und buchstäblich seinen Raum hatte, soll nun ein Graben gezogen werden. Das klingt nicht nach urbaner Ästhetik, sondern nach einer Festung. Nach Rückzug. Nach Misstrauen.

Es ist die bauliche Zuspitzung einer längst zerbrochenen Beziehung: zwischen dem Volk und jenen, die sich berufen fühlen, es zu vertreten. Vor dem Westportal des Reichstags soll nun ein Graben gezogen werden – ein „Aha“, wie man ihn in höfisch-feudaler Gartenbaukunst nannte. Ein Aha, das trennt, ohne sofort aufzufallen. Doch dieser Graben fällt auf – weil er symptomatisch ist für einen politischen Zustand, der längst nicht mehr nur symbolisch klafft – eben ein Aha, das bleibt.

Der Platz der Republik war einst ein Versprechen: ein weiter, offener Raum, der die architektonische Geste des Zugangs mit der Idee von politischer Teilhabe versöhnen sollte. Bürger sollten sich dem Parlament nicht nur nähern können – sie sollten es sich aneignen dürfen. Diese Geste wird nun zugeschüttet, oder besser: ausgehoben.

Zweieinhalb Meter tief, zehn Meter breit, 130 Meter lang – was klingt wie das Lastenheft für eine mittelalterliche Stadtmauer ist tatsächlich die neueste Idee aus dem Arsenal Berliner Symbolpolitik. Nicht mehr Transparenz, sondern topografische Trennung. Nicht mehr demokratische Offenheit, sondern ein permanenter Belagerungszustand. Die Republik im Verteidigungsmodus, gegen sich selbst.

Dieser Graben ist kein Bauprojekt, er ist ein Charakterbild. Er ist die gebaute Resignation einer politischen Klasse, die sich lieber verbarrikadiert als vermittelt. Wer in Umfragen verschwindet und sich auf der Straße nicht mehr blicken lassen kann, beginnt eben irgendwann, auch baulich auf Abstand zu gehen. Was als Shitstorm auf X beginnt, endet im Tiefbau.

Zur Verteidigung wird angeführt, es gehe um Prävention: der Reichstag sei ein potenzielles Ziel. Das ist nicht falsch, aber es ist auch weder neu noch einzigartig; und doch hat sich der Staat noch nie so offen eingestanden, wie sehr er den eigenen Bürgern misstraut. Die Furcht vor einem „deutschen 6. Januar“ treibt nun Sicherheitsplaner und Bauausschüsse um – als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Sturm auf ein Parlament beginnt. Dass man dafür bereit ist, demokratische Offenheit buchstäblich unter die Erde zu bringen, verrät mehr über den Zustand des politischen Selbstverständnisses als über reale Gefahrenlagen.

Der Graben ist dabei keineswegs spontane Reaktion, sondern seit Jahren Teil eines umfassenderen Baukonzepts rund um das geplante Besucherzentrum des Reichstags. Bereits 2018 wurde die Maßnahme im Bundestag diskutiert, samt Tunnelanbindung und sogenanntem „Aha-Graben“ – ab 2025 soll gebaut, bis 2029 vollendet werden. Dass ein solches Projekt seither nahezu geräuschlos vorbereitet wurde, macht es nicht harmloser, sondern bezeichnender: eine bauliche Entscheidung ohne öffentliche Auseinandersetzung – technisch gedacht, politisch folgenreich. Die Demokratie, so scheint es, traut ihrem Demos nicht mehr.

„Der Graben ist kein Schutzwall gegen Terror – er ist eine Absage an Vertrauen.“

Dass am Westportal weiterhin der Satz „Dem deutschen Volke“ prangt, wirkt unter diesen Umständen wie Hohn in Bronze. Man könnte in einem Anflug architektonischer Konsequenz vorschlagen, es zu ergänzen: „… aber nur nach Voranmeldung, Sicherheitscheck und Abstandswahrung.“ Oder direkter: „Dem deutschen Volke – Zutritt nur mit berechtigtem Anliegen.“ Vielleicht gleich ganz ohne Schnörkel: „Zutritt verweigert. Demokratie bitte draußen bleiben.

Statt Brücken zu bauen – wörtlich wie im übertragenen Sinne – zieht man nun Gräben. Nicht nur durch das Regierungsviertel, sondern durch die politische Landschaft dieses Landes. Zwischen denen, die regieren und denen, die sich regiert fühlen. Zwischen Mandatsträgern und Mandatsgebern. Zwischen Repräsentation und Realität. Zwischen Systemvertrauen und wachsender Skepsis.

Es ist eine Entwicklung, die sich nicht mit Beton aufhalten lässt – aber durch Beton sichtbar wird.

Selbstverständlich ist es richtig, über Sicherheit nachzudenken. Man muss es sogar, aber wer sie als Rechtfertigung für architektonische Abschottung missbraucht, macht aus der Demokratie ein Sperrgebiet. Sicherheit in einer offenen Gesellschaft ist kein Bollwerk – sie ist Beziehungspflege. Sie entsteht durch Dialog, nicht durch Distanz. Durch politische Präsenz, nicht durch Panikarchitektur.

Wer heute einen Graben zieht, sollte sich nicht wundern, wenn morgen der Dialog versiegt. Denn Vertrauen wächst nicht hinter Mauern. Vertrauen entsteht durch Nähe und wer diese Nähe aufgibt, gibt genau das auf, was ihn legitimiert: den Kontakt zum Souverän, dem Volke.

Manche mögen nun sagen: Es ist doch nur ein Graben. Doch wer das glaubt, hat nicht begriffen, was er symbolisiert. Dieser Graben ist kein architektonisches Detail – er ist das Sinnbild einer Demokratie, die sich zunehmend vor demjenigen fürchtet, von dem sie angeblich ausgeht. Ein Land, in dem sich die politische Klasse lieber einmauert, statt sich zu erklären, zieht nicht nur physische Linien in die Erde – sondern auch mentale Mauern in die Gesellschaft.

Der Reichstag wird zur Hochsicherheitszone, der Platz der Republik zur Sperrfläche. Und das Volk? Wird zur potenziellen Gefahr umgedeutet. Das ist keine Sicherheitsarchitektur – das ist der architektonische Offenbarungseid einer abgekoppelten Elite.

Vielleicht wäre es inzwischen nicht nur angebracht, sondern auch geradezu folgerichtig, die zuvor genannte Inschrift über dem Portal des Reichstags der neuen Realität anzupassen. Statt „Dem deutschen Volke“ müsste dort eigentlich stehen: „Dem deutschen Volke – mit Sicherheitsabstand“.
Und wer weiß – vielleicht fällt beim nächsten Umbau auch gleich das „deutschen“ dem ästhetischen Feingefühl des Zeitgeists zum Opfer. Das würde gewiss all jenen gefallen, für die schon der bloße Verweis aufs Nationale den Anfang der Wiederauferstehung des Dritten Reichs markiert. In einer politischen Kultur, die zwischen Fahnenstange und Führergruß kaum mehr zu unterscheiden weiß, wäre es nur folgerichtig, auch sprachlich auf Distanz zu gehen – sicherheitshalber.


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Wer hat Schuld am Aufstieg der AfD?

Eine Analyse ohne Pathos, aber mit Verantwortung

Kommentar von Jens Baumanns


Autorenbemerkung: Am 9. Mai 2025 ist Margot Friedländer im Alter von 103 Jahren verstorben. Dieser Kommentar war unabhängig davon geplant – doch ihre Haltung, ihr Appell an Vernunft und Menschlichkeit, verdienen gerade in diesen Tagen mehr Aufmerksamkeit denn je.


Gestern, am 9. Mai 2025, ist Margot Friedländer im Alter von 103 Jahren gestorben. Sie war eine der letzten Überlebenden der Schoah – und eine der wenigen, die der deutschen Gesellschaft bis zuletzt nicht mit Anklage, sondern mit Appell begegnete. Ihre Worte zielten nie auf Schuldzuweisung, sondern auf Verantwortung. Nie auf Ausgrenzung, sondern auf Menschlichkeit.

Gerade in einer Zeit, in der sich der politische Diskurs zunehmend in Empörung verliert und die Polarisierung schneller wächst als die Problemlösung, sind ihre Worte mehr als ein moralischer Hinweis: Sie sind Maßstab.

Der folgende Kommentar versucht nicht, Margot Friedländers Botschaft zu interpretieren. Aber er steht im Wissen darum, dass politische Analyse nicht genügt, wenn sie sich nicht an einem Grundsatz orientiert: Anständige Gesellschaften beginnen dort, wo Menschen einander nicht abschreiben – sondern zuhören. Nur so können wir verhindern, dass sich die Vergangenheit wiederholt.


Es ist eine dieser Fragen, die in politischen Talkshows gern aufgeworfen, aber selten ernsthaft beantwortet werden: Wer trägt die Verantwortung für den Aufstieg der AfD? Die reflexhafte Antwort lautet: „die anderen“. Die Grünen, weil sie zu belehrend sind. Die CDU, weil sie zu angepasst ist. Die Medien, weil sie zu viel berichten – oder zu wenig differenzieren. Auch „der Osten“ muss oft herhalten, als wäre dort ein demokratischer Sonderfall ausgebrochen. Doch der eigentliche Befund liegt tiefer – und unbequemer.

Die AfD ist nicht trotz, sondern wegen des Zustands der etablierten Politik so stark geworden. Sie ist das Produkt eines systemischen Defizits – nicht dessen Ursache.

Eine Republik auf Verschleiß – das materielle Fundament bröckelt

Zunächst zur Realität, die sich nicht mehr übersehen lässt: Der physische Zustand der Bundesrepublik ist ein Spiegel ihres politischen. Brücken sind marode und kollabieren, die Deutsche Bahn schreibt Rekorde, aber in Entschädigungszahlungen, Schulgebäude verfallen. Die Versäumnisse sind nicht neu, sie summieren sich. Jahrzehntelang wurden Innovationen durch Bestandsverwaltung ersetzt – ein Betriebsmodus, der gut funktioniert, solange nichts Außergewöhnliches passiert. Doch nun trifft der Normalbetrieb auf eine Gleichzeitigkeit multipler Krisen – Migration, Inflation, Krieg, Klimawandel – und plötzlich wird sichtbar, wie wenig dieses Land auf Belastung ausgelegt ist.

Der Verfall der Infrastruktur ist keine Metapher, sondern politischer Alltag. Wer erlebt, dass der Staat weder zuverlässig organisiert noch zeitnah reagiert, verliert das Vertrauen – nicht nur in Institutionen, sondern in deren Vertreter. Besonders dann, wenn zugleich immer weniger im eigenen Portemonnaie ankommt, während der Staat sich zur Hälfte am Einkommen bedient – aber nur noch ein Viertel davon sichtbar funktioniert.

Die Verschiebung des politischen Koordinatensystems – oder: Wie sich die Mitte plötzlich rechts wiederfand

Parallel dazu hat sich das politische Koordinatensystem nach links verschoben – nicht, weil rechte Kräfte stärker geworden wären, sondern weil die klassischen Volksparteien sich aus Unsicherheit selbst entkernt haben. Lange wurde versucht, gesellschaftliche Konfliktthemen durch semantische Befriedung zu entschärfen: Migration wurde zu „Vielfalt“, wirtschaftlicher Strukturwandel zu „Transformation“, Energieunsicherheit zu „Herausforderung“. Die reale Zumutung verschwand jedoch nicht – sie wurde lediglich sprachlich verbrämt.

In dieser Gemengelage wurde jeder Versuch, Probleme offen zu benennen, moralisch problematisiert. Wer über Kontrollverlust an den Grenzen sprach, war schnell „rechtsoffen“. Wer den sozialen Sprengstoff von Parallelgesellschaften thematisierte, wurde als „populistisch“ etikettiert.

Wer die AfD vermeiden will, muss sich mit genau diesen Themen sachlich auseinandersetzen – nicht mit dem Sprechzettel der Empörung, sondern mit nüchternem Realitätssinn. Kein Wunder, dass sich der Konservatismus ein neues Zuhause suchte – und leider ausgerechnet bei denen fand, wo Heimat nicht als Verantwortung, sondern als Abgrenzung verstanden wird.

Die politische Entkopplung – wenn Verwaltung an Repräsentation scheitert

Viele Bürger erleben die Politik nicht mehr als gestaltende Kraft, sondern als ritualisierter Selbstzweck. Es geht nicht mehr um Richtungsentscheidungen, sondern um Prozesspflege. Der Eindruck, dass der Staat in entscheidenden Fragen nicht mehr handlungsfähig ist, hat sich tief verfestigt. Migration, Energiepreise, Bildung, Infrastruktur, innere Sicherheit – allesamt Themen, in denen seit Jahren über Konzepte gesprochen wird, ohne dass sich strukturell etwas verbessert.

Der Wunsch nach einer anderen Politik ist da – und er ist legitim. Die AfD gelingt es, ihn kommunikativ zu besetzen, auch wenn sie politisch dafür nicht qualifiziert ist. Dass sie dennoch so viele Stimmen auf sich vereint, ist kein Beleg für deren Radikalisierung, sondern für die Kapitulation der übrigen Parteien vor den eigenen Versäumnissen.

Die fatale Gleichsetzung von Kritik und Gesinnung

Hinzu kommt: Der öffentliche Diskurs hat sich in eine Sackgasse manövriert, in der Kritik an Regierungshandeln regelmäßig als Indikator fragwürdiger Gesinnung gelesen wird. Die moralische Formatierung des Diskurses – stets mit dem Verweis auf „Haltung“ und „Demokratie“ – führt paradoxerweise zu deren Aushöhlung. Eine Demokratie lebt nicht von Einigkeit, sondern von Widerspruchsfähigkeit. Doch wer den Eindruck vermittelt, dass jede Kritik an Migrationspolitik oder Energiepolitik ein Einstieg in den Rechtsextremismus sei, darf sich über Polarisierung nicht wundern.

In einer solchen Atmosphäre ist es fast zwangsläufig, dass eine Partei wie die AfD als Katalysator wirkt: nicht, weil sie besonders überzeugend wäre – sondern weil sie in einem diskursiv versperrten Raum schlicht die verbliebene Ausdrucksform des Protests ist.

Gesellschaftliche Sättigung – Wohlstand ohne Richtung

Ein weiterer Aspekt, der kaum thematisiert wird: Deutschland befindet sich, bei allen aktuellen Krisen, weiterhin in einer langen Wohlstandsphase, obgleich der sich zuspitzenden ungleichen Vermögensverteilung. Doch Sättigung erzeugt keinen politischen Konsens, sondern Orientierungslosigkeit. In Schweden, in Finnland, in Dänemark zeigte sich das gleiche Phänomen: Je länger Stabilität währte, desto eher kippten Wähler aus Langeweile, Frustration oder schlichtem Überdruss ins Lager der Unzufriedenen.

Man will etwas anderes – nicht, weil man weiß, was man will, sondern weil man sich vom Status quo nichts mehr verspricht. Die politische Ordnung erscheint vielen als starr, technokratisch und unbeteiligt. In dieser Leerstelle wächst der Wunsch nach klaren Identitäten – und der Rückzug ins Nationale ist dabei kein Ausnahmephänomen, sondern historisch das Regelverhalten von Gesellschaften in Überforderungslagen.

Fazit: Die AfD ist kein Unfall, sondern die Quittung

Wer also wissen will, wer die AfD groß gemacht hat, sollte nicht nur nach Chemnitz oder Cottbus schauen – sondern nach Berlin-Mitte. In die Parteizentralen, in die Redaktionsräume, in die Selbstgewissheit des politischen Betriebes. Die AfD ist nicht die Ursache, sie ist die Konsequenz. Sie ist nicht der Riss – sie ist das Echo.

Wer sie klein halten will, muss aufhören, sie groß zu reden – und anfangen, wieder Politik zu machen, die diesen Namen verdient. Politik, die nicht belehrt, sondern erklärt. Die nicht symbolisiert, sondern strukturiert. Die Probleme löst – statt Empörung zu kultivieren. Denn der Vertrauensverlust ist nicht aus dem Nichts gekommen, er wurde sich redlich verdient.

Was es jetzt braucht, ist nicht noch mehr Aufregung, sondern mehr Aufrichtigkeit. Weniger Gegeneinander, mehr Miteinander; und vielleicht vor allem: mehr Margot Friedländer.

Ihr Aufruf zur Vernunft war kein Relikt vergangener Zeiten, sondern eine Einladung an uns alle, das Gespräch nicht aufzugeben – über Differenzen hinweg, im Sinne des Miteinanders. Ihr Vermächtnis verpflichtet. Es ist an uns, es fortzuführen.


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Das Gegenteil von gut gemacht ist gut gemeint –

Die Einstufung der AfD und ihre Konsequenzen.

Kommentar von Jens Baumanns

Es gibt Entscheidungen, die nachvollziehbar, vielleicht sogar notwendig sind – aber deren Wirkung das Gegenteil dessen bewirkt, was beabsichtigt war. Die heutige Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ durch das Bundesamt für Verfassungsschutz fällt genau in diese Kategorie. So richtig die Einstufung der AfD auch sein mag – ihr Timing ist es nicht. Vor allem, weil sie zu spät kommt – und zu einem Zeitpunkt, der in der öffentlichen Wahrnehmung alles andere als souverän wirkt.

Ein solcher Schritt entfaltet nämlich nicht nur juristische, sondern auch massive gesellschaftliche Wirkung. Er betrifft nicht nur eine Partei, sondern auch deren Wähler. Millionen von Menschen sehen sich nun implizit in den Bereich des Verfassungsfeindlichen verschoben. Nicht, weil sie extremistisch denken, sondern weil sie eine Partei gewählt haben, die man ihnen nun nachträglich politisch und moralisch aberkennt.

Gerade jetzt, da die AfD in Umfragen bei 26 Prozent liegt und somit stärkste politische Kraft im Land ist, entfaltet die Einstufung als „gesichert rechtsextremistisch“ eine Sprengkraft, die nicht unterschätzt werden darf. Der Zeitpunkt dieser Maßnahme, gewählt von einer geschäftsführenden Bundesregierung, die bereits vom Wähler abgewählt wurde, wirkt nicht wie der Ausdruck staatlicher Entschlossenheit, sondern wie das Ziehen der Notbremse im Zielbahnhof. Es scheint, als habe man sich jahrelang vor klaren Entscheidungen gedrückt und greife nun, da alle anderen Mittel erschöpft sind, zum letzten verbliebenen Instrument.

Innenministerin Nancy Faeser betonte unmittelbar nach der Verkündung der Entscheidung durch den Verfassungsschutz, dass diese Einstufung selbstverständlich „nicht politisch beeinflusst“ sei. Selbst wenn dies formal korrekt sein mag, entsteht zumindest der Eindruck, dass die politische Führung sich von der Verantwortung distanziert. Vor allem deshalb, weil der politische Kontext kaum unvorteilhafter sein könnte: Eine Koalition, die nur noch geschäftsführend im Amt ist, ein Kanzler, der schweigt, und eine Innenministerin, die sich am Morgen der Verkündung auffällig bemüht von der Entscheidung zu distanzieren. Solche Klarstellungen – ob notwendig oder nicht – wirken in dieser Situation fast schon unfreiwillig komisch. Oder, noch schlimmer: durchschaubar. Denn wenn man es extra betonen muss, dass etwas nicht politisch gesteuert ist, dann hat man das Vertrauen bereits verloren.

Diese Kommunikation verstärkt das Gefühl, dass der Staat nicht mehr aus Überzeugung handelt, sondern aus Verlegenheit. Die Entscheidung wirkt nicht konsequent, sondern kalkuliert; nicht entschlossen, sondern inszeniert: Und genau das – merkt man.

Die politische Klasse hat die AfD nie wirklich gestellt. Ihre Repräsentanten wurden aus Diskussionsrunden ausgeladen, in Ausschüssen gemieden, im Bundestag ignoriert. Diese Strategie des Verschweigens und der sozialen Ächtung hat nicht dazu geführt, die Partei zu entlarven. Sie hat sie gestärkt. Statt ihre Positionen argumentativ zu entkräften, hat man sie zum Tabu erklärt. Wer sich mit der AfD befasst, galt als kontaminiert. Wer sie argumentativ stellte, riskierte moralische Verurteilung.

Auf diese Weise konnte sich die Partei in einer Opferrolle einrichten. Sie profitierte von der Inszenierung als ausgeschlossene Stimme, als einzig wahre Opposition gegen ein abgehobenes System des Establishments. Die eigene Radikalisierung wurde hinter dem Schutzschild der Dämonisierung kaschiert. Weil niemand den Finger auf die inhaltlichen Abgründe legte, blieb der Blick auf sie oberflächlich. So konnte sie an Stärke gewinnen – nicht trotz, sondern wegen der Ignoranz, die ihr entgegenschlug.

Wer sie heute als rechtsextrem einstuft, kommt nicht zu spät, was den Befund betrifft – wohl aber, was die politische Wirksamkeit. In einer Situation, in der die AfD bereits tief in den Institutionen angekommen ist, verpufft ein solcher Schritt nicht nur – er kehrt sich um. Er liefert der Partei und ihren Anhängern den Beleg für all das, was sie seit Jahren behauptet: dass der Staat ihnen feindlich gegenübersteht, dass ihre Meinung nicht zählt, dass man sie um jeden Preis ausgrenzen will.

Besonders brisant ist die begleitende Debatte um ein Parteiverbot. Denn sie transportiert eine Botschaft, die sich nicht mehr trennen lässt von der Einstufung selbst: Die Demokratie soll sich ihrer Gegner entledigen, indem sie ihnen die rechtliche Grundlage entzieht. Politische Auseinandersetzung wird durch juristische Maßnahme ersetzt. Das mag rechtlich argumentierbar sein – politisch und gesellschaftlich ist es verheerend.

Ein Viertel der Wähler ist kein Betriebsunfall

Ein Viertel der Wähler kann man nicht aus dem politischen Raum ausschließen, ohne die Demokratie selbst zu beschädigen. Wer heute ein Parteiverbot fordert, sagt nicht nur etwas über die Partei – er sagt auch etwas über deren Wähler. Die Botschaft lautet: Eure Stimme ist nicht nur falsch – sie ist illegitim. Eure Meinung ist nicht mehr vorgesehen. Eure Perspektive gilt nicht als Teil dieses Staates.

Solche Signale sind Gift für jede politische Kultur. Sie treiben Menschen nicht zurück zur Mitte, sondern tiefer in die Überzeugung, dass sie im eigenen Land nichts mehr gelten. Wer so handelt, vertieft nicht nur die gesellschaftliche Spaltung – er macht sie vollends unüberbrückbar.

Ein funktionierender Rechtsstaat darf sich gegen Verfassungsfeinde wehren, aber eine lebendige Demokratie darf nicht aufhören, zu argumentieren. Sie muss sich mit politischen Gegnern auseinandersetzen, auch wenn diese radikal, laut und unangenehm sind. Wer glaubt, das Problem AfD durch Verbote und Verbannung lösen zu können, irrt.

Denn hinter dieser Partei stehen Millionen von Wählern mit realem Frust, echter Wut und konkreten Sorgen. Mit der Einstufung der AfD werden auch ebendiese Millionen von Wählern auf eine Stufe gestellt. Menschen, die nicht zwingend extrem sind, aber dennoch diese Partei wählen – aus Protest, aus Frust, aus Enttäuschung. Ihre Motive sind vielgestaltig – aber sie sind da und sie verschwinden nicht, wenn man das Sprachrohr verbietet.

Wer diese Gruppe pauschal in einen verfassungsfeindlichen Kontext rückt, riskiert eine Eskalation, die nicht mehr rückholbar ist. Wer nicht unterscheidet zwischen Wählern und Gewählten, verliert genau die, die für die Demokratie noch erreichbar wären. Ein Staat, der nicht mehr unterscheidet, sondern nur noch markiert, riskiert Vertrauen. Genau dieses Vertrauen ist die Währung, mit der Demokratie operiert. Nicht mit Macht, nicht mit Deutungshoheit – sondern mit Legitimität.

Politik darf sich nicht auf juristische Maßnahmen zurückziehen, wenn ihr die Argumente ausgegangen sind. Der Rückgriff auf den Verfassungsschutz ersetzt keine politische Idee. Der Ruf nach einem Verbot ersetzt keinen überzeugenden Gegenentwurf. Die Diagnose mag stimmen – aber die Therapie ist falsch.

Die AfD hätte inhaltlich gestellt, argumentativ entwaffnet, politisch entlarvt werden müssen. Ihre vermeintlich einfachen Lösungen hätten Stück für Stück demontiert werden müssen – im Parlament, in der Öffentlichkeit, in der konkreten Auseinandersetzung mit ihren Forderungen. Die Chance dazu wurde über Jahre vertan. Zu oft hat man geschwiegen. Zu oft gehofft, dass sich das Problem selbst erledigt. Oder man hat den Fehler gemacht, berechtigte Sorgen pauschal zu moralischen Verfehlungen zu erklären:

Kritik an Migration? „Rechts!“
Fragen zur wirtschaftlichen Belastung? „Populismus!“
Skepsis gegenüber wachsender Bürokratie? „Ewiggestrig!“

So funktioniert Demokratie nicht. So entsteht Frust, der sich radikalisiert.

Wer die AfD kleinhalten will, muss den Diskurs wieder öffnen. Ihre Positionen müssen offengelegt, durchdacht, auseinandergenommen werden – nicht nur moralisch, sondern auch inhaltlich. Wer sie dämonisiert, gibt ihr Macht. Wer sie stellt, nimmt ihr die Maske.

Demokratie lebt vom Aushalten. Sie lebt davon, dass man sich streitet – nicht dass man den Streit verbietet. Sie lebt davon, dass man Kritik nicht nur erlaubt, sondern ernst nimmt. Gerade dann, wenn sie wehtut.

Man darf die AfD bekämpfen – ja, man muss, aber man darf nicht glauben, dass das Verbot der Partei auch ihre Wähler verschwinden lässt.

Denn wer Millionen von Menschen signalisiert, dass ihre Meinung nicht zählt, dass ihre Stimme im Zweifel für ungültig erklärt wird, der löscht nicht das Feuer – er wirft die nächste Fackel hinein.

Was jetzt nötig wäre: politische Reife. Argumentative Klarheit. Geduld. Vor allem aber: Unterscheidungsvermögen.

Die AfD ist eine politische Kraft mit rechtsradikalen Zügen – Punkt – aber ihre Wähler sind nicht automatisch Feinde der Demokratie. Wer das vermischt, verliert mehr als Wahlen. Er verliert die Grundlage des Zusammenhalts: Vertrauen.

Wir brauchen kein Parteiverbot, das Debatten ersetzt. Wir brauchen eine politische Kultur, die sich wieder zutraut, die besseren Argumente zu haben. Nicht lauter. Nicht aggressiver. Sondern fundierter.

Denn wenn wir beginnen, demokratische Stimmen als Gefahr zu behandeln, nur weil sie unbequem sind – dann wird aus gut gemeint am Ende genau das: nicht gut gemacht.