Über eine Wahl, die alles sagt, was man wissen muss.
Kommentar von Jens Baumanns

Prolog: Kanzlerwahl – ein Lehrstück in drei Akten
Bühne: Deutscher Bundestag. Großer Saal, blendend ausgeleuchtet. In den Reihen: kostümierte Fraktionen, Blicke starr nach vorn, die Hände auf Zählung eingestellt. Flüstern hinter vorgehaltener Hand, nervöses Korrigieren der Sitzordnung. Die Republik hält den Atem an.
Regieanweisung: Leichtes Rascheln im Zuschauerraum – die Bevölkerung schaut per Liveticker zu.
Vorhang auf für das Hohe Haus der großen Erwartungen. Die Inszenierung: Kanzlerwahl – Ein Lehrstück in drei Akten. Besetzt mit bekannten Namen, altgedienten Mienen und einem Hauptdarsteller, der sich seiner Rolle sicher ist. Die Bühne ist bereitet, die Dramaturgie bekannt: eine neue Legislatur beginnt, aber diesmal bröckelt der Putz schon bei der Premiere.
Der designierte Kanzler wartet auf seinen Einsatz. Die Koalition spielt sich warm, murmelt Textzeilen von Einigkeit und Aufbruch. Doch zwischen den Zeilen zittert es. Kein Schwung, kein Applaus – nur gespannte Erwartung. Dann der erste Auftritt: 328 Abgeordnete hätten ihn tragen sollen. Nur 310 tun es. Sechs Zeilen fehlen im Skript. Schnitt. Pause. Ratlosigkeit übernimmt die Hauptrolle.
Ein Raunen geht durchs Land. Auf den Bildschirmen draußen blinkt: „Merz durchgefallen – Beratung folgt.“ Der Vorhang schließt sich. Vorerst.
Was folgt, ist keine Inszenierung mehr – sondern Realsatire. Das Plenum verschiebt die Entscheidung auf morgen, während draußen Millionen arbeiten. Erst als die Außenwirkung unhaltbar wird, als selbst die Tagesschau-Zuschauer das Drehbuch nicht mehr verstehen, kommt die Kehrtwende. Geschäftsordnung? Spontan geändert. Zweiter Akt: improvisiert.
Jetzt bitte alle wieder einsteigen, Szenenwechsel. Kanzlerwahl, die zweite. Diesmal mit Ergebnis. 325 Stimmen. Applaus? Vom Tonband. Die Szene bleibt stehen wie eingefroren – niemand weiß, ob sie wirklich weitergeht.
Ein Regierungsbeginn auf Kante
Was sich heute zutrug, war kein Neuanfang. Es war ein Signal der Schwäche. Friedrich Merz wurde zum Kanzler gewählt – neun Stimmen über der Kanzlermehrheit, aber drei unter der Koalitionsstärke. Was nüchtern klingt, ist bei genauerem Hinsehen ein Lehrstück über die brüchige Statik dieser Regierung.
Denn schon im ersten Durchgang war sie gefallen – an sich selbst. Wer mit 328 Abgeordneten ins Rennen geht und mit 310 scheitert, hat kein Problem mit der Opposition, sondern mit der eigenen Koalition. Das Vertrauen fehlt – und es wird so schnell nicht zurückkommen.
Man kann sich ausmalen, wie die kommenden Monate aussehen werden: Jeder Gesetzesentwurf wird zur Vertrauensfrage, jede namentliche Abstimmung zum Nervenspiel. Ja, formal reicht oft die einfache Mehrheit der Anwesenden. Aber politisch heißt das: regieren im Ausnahmezustand. Keine Luft für Dissens, kein Platz für Profil. Eine Regierung auf Zählbetrieb – getrieben, nicht führend.
Die Grünen: Die Kunst, alles mitzunehmen und trotzdem zu verweigern
Am absurdesten aber bleibt das Verhalten der Grünen. Die Partei, die zuvor Milliarden aus dem Koalitionskompromiss erpresste und beim beschlossenen Schuldenpaket zulangte, als wäre das politische Budget ein All-you-can-eat-Buffet: Förderzusagen, Haushaltslinien, ideologische Duftmarken. Kaum war der letzte Paragraf trocken, wurde der Rückzug in die Opposition verkündet. Die Erklärung? Man wolle nicht Teil einer Regierung sein, die man gerade noch mitverhandelt hat. Es ist die Quadratur des politischen Opportunismus: zuerst mitgestalten, dann empört wegsehen.
Opposition wird zur Komfortzone. Verantwortung ist gut – solange sie in der Regierung bleibt. So simuliert man Prinzipientreue, ohne den Preis für Kompromisse zahlen zu müssen. Was bleibt, ist eine Haltung – aber keine Politik.
Die SPD: Macht aus Gewohnheit, nicht aus Mandat
Nicht minder bizarr ist der Auftritt der SPD. Eine Partei, die mit einem historischen Tief aus der Wahl kam, die gesellschaftliche Mitte an die CDU und die Arbeiterschicht an die AfD verloren hat – und dennoch Ministerien besetzt, als wäre der Wahltag ein Betriebsausflug gewesen. Wer so wenig Rückhalt hat, sollte leiser auftreten. Stattdessen verhalten sich die Genossen wie ein Mieter, der nach fristloser Kündigung trotzdem noch Ansprüche auf die Wohnungseinrichtung samt Stellplatz anmeldet.
Das Problem ist nicht die Zahl der SPD-Minister – es ist der Mangel an Legitimation. Olaf Scholz hat dieses Land über Jahre hinweg nicht regiert, sondern verwaltet. Nun soll seine Partei als tragende Säule einer neuen Regierung dienen? Es ist, als würde man ein marodes Dach neu decken, während das Fundament längst im Erdreich versinkt.
CDU: Zwischen moralischer Symbolik und praktischer Verantwortungslosigkeit
Die CDU hat nun ihren Kanzler: Hat ihn durchgebracht. Irgendwie, aber eben nicht mit Kraft, sondern mit Kalkül. Friedrich Merz steht nun an der Spitze einer Koalition, die ihn duldet, aber nicht trägt. Es ist der Sieg eines Kandidaten, der alles richtig gemacht hat – außer, Begeisterung zu erzeugen.
Wer eine Mehrheit will, muss sie sich holen. Auch wenn das bedeutet, mit der AfD zu reden. Nicht weil man die AfD gutheißen muss – Gott bewahre – sondern weil es Demokratie nicht ist, wenn man sich in einer Endlosschleife der Empörung windet, während das Land brennt. Politik ist kein Erbauungstheater: Wer gestalten will, muss sich die Hände schmutzig machen dürfen – statt ständig die weiße Weste der „Brandmauer“ zu zeigen, hinter der längst das Land in Flammen steht.
Ein Parlament, das sich selbst ausbremst – und ein Europa, das weiterzieht
Der Bundestag tritt in eine neue Legislatur, aber es fühlt sich an wie das letzte Kapitel eines politischen Romans, den niemand zu Ende schreiben will. Schon heute ist klar: Die kommenden Jahre werden keine Phase des Aufbruchs. Sie werden ein administrativer Eiertanz, ein parlamentarisches Mikadospiel: Wer sich zuerst, und vor allem, in die falsche Richtung bewegt, verliert.
Diese knappen Ergebnisse verdeutlichen die brüchige Basis der neuen Regierung und werfen einen Schatten auf die zukünftige Regierungsarbeit. Die Koalition wird bei jeder Abstimmung um Mehrheiten ringen müssen, was die Arbeitsfähigkeit des Bundestags erheblich belasten dürfte. Die Kanzlerwahl hat somit nicht nur einen neuen Regierungschef hervorgebracht, sondern auch die strukturellen Schwächen der aktuellen politischen Konstellation offenbart – sichtbar, zählbar, dokumentiert. Ein mahnender Ausblick auf die Herausforderungen, die das Parlament in den kommenden Jahren zu bewältigen hat. Nicht irgendwo am Horizont, sondern direkt in den eigenen Reihen.
Wie das Ganze auf die breite Bevölkerung wirkt, die diesen ersten Wahlgang im Liveticker der Tagesschau verfolgt hat? Es grenzt an Arbeitsverweigerung. „Merz durchgefallen“ – so die nüchterne Notiz. Dann: Beratungspause. Eine neue Wahl? Frühestens morgen, hieß es. Man müsse sich erst sortieren. Während draußen Bürger Steuern zahlen und drinnen Abgeordnete ihre Verantwortung vertagen.
Doch offenbar hat man im Bundestag gemerkt, dass man dem Steuerzahler diese Realsatire nicht länger zumuten kann. Also wurde die Geschäftsordnung im Eilverfahren angepasst – plötzlich war ein zweiter Wahlgang doch noch am selben Tag möglich. Einstimmig. Man möchte fast meinen: Wenn es um den eigenen Gesichtsverlust geht, kann das Parlament plötzlich sehr effizient sein.
Währenddessen fragt sich das Ausland, ob Deutschland gerade einen Regierungschef wählt oder ein kollektives Kommunikationsseminar veranstaltet. In Brüssel, Paris und Warschau schaut man irritiert nach Berlin – oder gar nicht mehr. Frankreich hat längst damit begonnen, das deutsche Gedeck am Tisch der Weltpolitik abzuräumen. Die Mahnung aus Paris war deutlich: Wer nicht kommt, fliegt raus und während Merz seine Mehrheit zusammenzählt, übernimmt Macron längst die Regie. Der neue Chefkellner Europas hat das Signal verstanden: Der deutsche Stammgast kommt wohl nicht mehr.
Was der Rest der Welt über diesen Wahlprozess denkt? Ich will es lieber gar nicht wissen.
Deutschland braucht eine handlungsfähige Regierung, keinen Debattierclub für moralische Überlegenheit. Demokratie heißt: Mehrheiten organisieren, nicht Haltung zelebrieren. Die Grünen spielen sich auf wie das gute Gewissen der Republik, während sie das Land sehenden Auges in eine Regierungsunfähigkeit treiben. Die SPD sonnt sich im Glanz vergangener Größe und die CDU zögert noch, das Offensichtliche zu tun: Machtpolitisch ist es Zeit, auch über bislang Undenkbares nachzudenken – nicht aus frenetischer Unterstützung und Liebe zur AfD, sondern aus Pragmatismus. Nichts geringeres, als der Pflicht für unser Land.
Was heute passiert ist, war nicht nur ein trauriges Schauspiel – es war ein gefährliches. Denn in Zeiten multipler Krisen hat Demokratie keine Zeit für kindische Spielchen. Sie braucht keine Bedenken-, sondern Entscheidungsträger.
Der Vorhang fällt. Nur eins ist sicher: Der dritte Akt steht uns noch bevor.
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