Bundestag GmbH & Co. KG
Kommentar von Jens Baumanns

Man stelle sich vor: Ein Angestellter taucht monatelang nicht zur Arbeit auf, meldet sich nicht ab, reagiert nicht auf Mails, ist telefonisch nicht erreichbar – und kassiert trotzdem weiter volles Gehalt. Er muss keine Leistungsnachweise erbringen, keine Projekte abliefern, keine Teammeetings besuchen. Kritik? Wird ignoriert. Konsequenzen? Keine. Im Gegenteil: Er legt sich sogar noch Nebentätigkeiten zu, verdient zusätzlich sechsstellig und erklärt auf Nachfrage, er sei eben „seinem Gewissen verpflichtet“.
In jedem Unternehmen wäre so jemand nach dem dritten Fehltag Geschichte. In der Verwaltung: suspendiert. In der Industrie: entlassen. Im Krankenhaus: eine Gefahr für Patienten. Im Bundestag? Ein ganz normaler Dienstag.
Dort gelten eigene Spielregeln. Oder besser gesagt: gar keine. Wer es einmal ins Parlament geschafft hat, genießt ein Schutzschild, das selbst Teflon neidisch machen würde. Unantastbar, unangreifbar, unkündbar. Die Immunität des Mandats ist in der Praxis längst zur Immunität gegenüber Verantwortung mutiert.
Mandatsfreiheit als Flucht vor Verantwortung
Dabei war der Grundgedanke einst ehrenwert: Die Väter des Grundgesetzes wollten verhindern, dass Abgeordnete unter Fraktions-, Parteidruck oder staatlicher Repression stehen. Artikel 38 GG spricht ihnen deshalb das „freie Mandat“ zu – verpflichtet allein dem Gewissen. Doch was als Schutz gegen autoritäre Übergriffe gedacht war, dient heute als Tarnkappe für politische Arbeitsverweigerung.
Der Volksvertreter von heute ist zwar gewählt, aber faktisch unantastbar. Ein politischer Freigeist mit der Lizenz zum Fernbleiben, zur Inaktivität, zur Nebentätigkeit – selbstverständlich alles steuerfinanziert. Kein Chef kann ihn ermahnen, kein Bürger ihn abberufen, keine Instanz ihn zur Ordnung rufen. Nicht einmal die kollektive Peinlichkeit, mit leerem Plenarsaal bei Debatten zur Haushaltskrise, reicht für Konsequenzen.
Ein Beruf ohne Nachweis, ohne Pflicht – aber mit Diäten
Wir sprechen von einem Berufsstand ohne Präsenzpflicht, ohne Urlaubsregeln, ohne formale Leistungsprüfung. Kein Protokoll vermerkt, ob ein Abgeordneter sich monatelang jeder inhaltlichen Auseinandersetzung verweigert. Kein Ausschuss rügt, wenn die einzige Aktivität darin besteht, Pressemitteilungen zu retweeten. Kein Wähler hat die rechtliche Möglichkeit, bei grober Untätigkeit einzugreifen – außer, vier Jahre lang still zu leiden.
Während Arbeitnehmer mit Stempeluhr, Leistungsdruck und Befristung leben müssen, reicht im Bundestag ein Mandat – und schon verwandelt sich Verantwortung in Dekoration. Das politische Mandat ist zur Vollkasko-Versicherung für Karrieristen geworden, denen der Kontakt zum Wahlkreis oft genauso fremd ist wie der Blick ins Grundgesetz.
Karriere ohne Können
Doch nicht nur das System ist dysfunktional – auch viele seiner Protagonisten sind es. Denn man wagt kaum zu fragen, mit welchen Qualifikationen manche unserer hochdotierten Volksvertreter eigentlich in ihr Mandat gestolpert sind. Die nüchterne Antwort: mit erstaunlich wenig. Kein Abschluss, keine Ausbildung, kein Beruf – dafür aber eine steile Karriere im Fahrstuhl der Parteijugend. Wer es früh genug schafft, im JU-Kreisverband Flyer zu verteilen, kann heute ohne einen einzigen Tag ehrlicher Erwerbsarbeit ins Parlament einziehen – und dort das Leben von Millionen mitgestalten, deren Realität er nie kennengelernt hat.
Das Ergebnis? Ein Rekordanteil von Akademikern im Bundestag – aber erschreckend viele davon ohne jeden Praxisbezug. Laut Auswertungen verfügen Dutzende Abgeordnete über keinen Berufsabschluss, einige nicht einmal über ein abgeschlossenes Studium. Sie gehören damit zu einer sehr exklusiven Gruppe: den bestbezahlten Ungelernten des Landes. Über 10.000 Euro monatlich Grundvergütung, steuerfreie Pauschalen, großzügige Altersversorgung – das alles ohne je wissen zu müssen, wie man eine Steuererklärung ausfüllt, eine Schicht in der Pflege überlebt oder mit drei Kindern durch den Wocheneinkauf kommt. Willkommen im Hochadel der Lebensferne.
Ein Elfenbeinturm mit Fahrdienst
Während der normale Bürger über Heizkosten, Rentenlücken und Kita-Plätze grübelt, fliegt in Berlin die Debatte an der Wirklichkeit vorbei wie der ICE am Regionalbahnhof. Dort, wo das Leben spielt, sind unsere Abgeordneten längst ausgestiegen. Existenzsorgen? Unbekannt. Angst vor Jobverlust? Unerklärlich. Monatsende? Reine Theorie. Die Republik diskutiert über bezahlbaren Wohnraum, Berlin hingegen über Dienstwagenordnungen. Und wer sich dann noch fragt, warum die Politikverdrossenheit wächst, hat den letzten Bürgerdialog wohl durch eine Lobbyistenrunde ersetzt.
Demokratie als Selbstbedienungsladen
Zu allem Überfluss regeln sich die politischen Kasten ihre Privilegien auch noch selbst. Die AfD zeigte es zuletzt exemplarisch: Ihre Fraktionsspitze gönnte sich ganz ungeniert eine Verdopplung der eigenen Zulagen – von bereits üppigen 6.000 auf satte 12.000 Euro monatlich obendrauf. Gesamteinkommen: 24.000 Euro. Pro Monat. Pro Person. Beschlossen im stillen Kämmerlein, kontrolliert von niemandem außer den eigenen Reihen. Man stelle sich vor, ein Betriebsrat würde sich selbst zum CEO befördern – und keiner hält ihn auf.
Doch während im Bundestag die eigenen Bezüge steigen, sind die großen Reformprojekte längst unter der Patina des politischen Stillstands begraben. Steuerlast, Energiekosten, Pflegekrise, Wohnraummangel – alles verschoben, vertagt, verpennt. Jahrzehntelang wurde das Notwendige hinausgezögert, bis das Unumgängliche nicht mehr zu bezahlen war. Jetzt ist es nicht nur zu spät. Es ist verantwortungslos spät.
Zeit für ein Ende der politischen Narrenfreiheit
Deshalb braucht es Reformen. Kein Reförmchen, kein Gutachten, kein „Wir-müssen-reden“-Stuhlkreis der Bundestagspräsidentin – sondern klare, durchsetzbare Regeln:
- Ein gesetzlich verankertes Abwahlrecht für Abgeordnete, die nachweislich ihre Pflichten verletzen oder dauerhaft passiv bleiben. Was in anderen Demokratien längst Realität ist, wäre hier ein Befreiungsschlag.
- Verpflichtende Transparenzpflichten zur Anwesenheit im Plenum, zur Beteiligung an Ausschüssen, zu Redebeiträgen, zur Abstimmungsteilnahme und zu Nebentätigkeiten. Öffentlich einsehbar, quartalsweise dokumentiert. Wer etwas taugt, hat nichts zu befürchten.
- Gehaltskürzungen oder Disziplinarmaßnahmen bei grober Pflichtverletzung – etwa monatelanger Abwesenheit ohne triftigen Grund. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht verdienen. Das gilt in jeder Branche – außer in der Politik. Noch.
- Verpflichtende Rechenschaftsformate im Wahlkreis, mindestens zweimal jährlich. Kein PR-Kaffeekränzchen, sondern verbindliche Bürgerdialoge, protokolliert und nachweisbar.
Natürlich wird sofort das freie Mandat bemüht. Doch wer das Mandat als Ausrede für Untätigkeit missbraucht, hat den Sinn der Freiheit nie verstanden. Es geht nicht darum, die Unabhängigkeit des Abgeordneten abzuschaffen. Es geht darum, sie mit Leben zu füllen – und mit Pflichten zu unterfüttern. Freiheit ohne Verantwortung ist keine Tugend, sondern eine politische Unverschämtheit.
Der Bundestag ist kein Ponyhof. Er ist das Zentrum unserer Demokratie und wer dort sitzt, muss nicht nur Reden halten, sondern auch liefern. Der Wähler ist nicht das Empfangskomitee einer politischen Elite, sondern der Arbeitgeber der Republik. Wer sich als Abgeordneter dafür zu schade ist, der sollte sich besser eine andere Bühne suchen – Reality-TV bietet bekanntlich ebenfalls Immunität gegen Sachlichkeit.
Fazit: Parlamentarismus braucht Prüfzeichen
Es ist höchste Zeit, den Goldrand um das freie Mandat zu schleifen. Nicht, um den Parlamentarismus zu schwächen – sondern um ihn zu retten. Denn wenn sich das Gefühl verfestigt, dass Abgeordnete zwar alles dürfen, aber nichts müssen, dann ist die eigentliche Gefahr nicht die Politikverdrossenheit – sondern die Demokratieverweigerung.
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